Als 15jähriger Bub, es ist der Anfang des Jahrtausends, schaute ich Woche für Woche die einstündige Zusammenfassung von WWF SmackDown! auf TM3. (Einem Fernsehsender, der als »Frauensender« betrieben wurde.) Was ich mir da auch nicht vorstellen konnte, weil es das alles einfach noch nicht gab: Dass ich fast ein Vierteljahrhundert später um 5:30 Uhr in der Früh im Badezimmer stehe und während des Zähneputzens auf dem Smartphone auf Netflix via VPN über einen US-Server die erste WWE-Raw-Ausgabe laufen lasse, die der sTrEaMiNg-GigAnT überträgt.
Davon habe ich in den letzten Tagen zufällig gelesen, als ich mal wieder im Wrestling-rabbit-hole versunken war und unter anderem das Hell-in-a-Cell-Match The Undertaker vs. Mankind von 1998 geschaut hatte (hier das Reaction-Video der beiden von 2023). Und dann sehe ich es morgens auf BlueSky wieder, weil sich zahlreiche Leute über eine peinliche Situation amüsieren: Terry »Hulk Hogan« Bollea tritt auf, will eine »promo« »cutten« (d. h. eine Ansage ans Publikum machen) und wird von den 17 000 Leuten im Intuit Dome, Inglewood, Los Angeles, CA, ausgebuht. Weil er beim letztjährigen Nominierungsparteitag der Republikaner aufgetreten war, auf dem Donald Trump gEkürT worden war.
In den ersten paar Raw-Minuten treten auf: Triple H, der es zwar auch ein bisschen ins Filmgeschäft, aber nie aus der WWF WWE geschafft hat, und The Rock, mit dem ich wirklich nicht gerechnet hatte. Nach meiner Wahrnehmung ist aus vormals Dwayne »The Rock« Johnson, dem Schauspieler mit der Wrestlingvergangenheit, doch schon lange Dwayne Johnson der Schauspieler geworden.
Wie überall: Sie hängen sich verzweifelt an die good ol’ times. Und natürlich muss in alle Mikrofone – von Kommentatoren und Auftretenden – unendlich oft »Netflix« gesagt werden. (Was man sich vertraglich wohl hatte zusichern lassen? Und ob ein Praktikant per Klickzähler oder eine KI mitzählen muss?)
Triple H jedenfalls verkündet als erster Auftretender mitten im Ring: »Welcome … to the … NET-FLIX-ERA!!!« Und ich denke: »Ah, jetzt wollen sie das Produkt endgültig ramponieren.«
(Warum Netflix-Filme mittlerweile bis zur Unerträglichkeit schlecht geworden sind, hat ein Herr namens Will Tavlin in einem langen Text kürzlich hier dargelegt: https://www.nplusonemag.com/issue-49/essays/casual-viewing/.)
Das ist freilich eine Referenz auf die verschiedenen Ären, die die WWF WWE durchlaufen hat:
- Golden Era (1980–1993)
- New Generation Era (1993–1997)
- Bret »The Hitman« Hart etc.
- Attitude Era (1997–2002)
- z. B. Stone Cold Steve Austin, The Undertaker, The Rock
- Ruthless Aggression Era (2002–2008)
- ab hier kenne ich mich nicht mehr aus
- PG Era (2008–2014)
- die WWE wollte familienfreundlich/er werden: PG bedeutet Altersfreigabe ab 6 Jahren (Parental Guidance Suggested)
- Reality Era (2014–2016)
- New Era (2016–2021)
- Post-COVID-19 period (2021–2023)
- uff, Freunde, wie kreativ
- WWE under Endeavor after the formation of TKO (2023–present)
- to be renamed in the future, can’t know what era you live in. Wobei: Vor allem die Attitude- und die Ruthless-Aggression-Era wurden währenddessen so genannt
Aber zurück zu Netflix: Die Entrance von The Rock dauert mehrere Minuten, er hat so viele Hände abzuklatschen, bevor er in den Ring steigen kann. Über seine Schulter gelegt trägt er einen Wrestling-Champion-Gürtel. »Hä, ist er wohl schon länger wieder dabei und aktuell WWE-Champion?«, denke ich.
Aber nein, natürlich nicht: Es ist der People’s Championship Belt, den The Rock letztes Jahr von Muhammad Alis Witwe Lonnie Ali bei dessen postumer Einführung in die WWE Hall of Fame (wofür auch immer, ich duckduckgoe das jetzt nicht auch noch) verliehen bekommen hatte. Für Nichteingeweihte: Der sehr beliebte The Rock war immer der People’s Champion und sein Finishing Move, ein frenetisierend angeleierter, doch letztlich läppischer Elbow Drop, hieß The People’s Elbow.
The Rock wird wohl wieder öfter als Wrestler auftreten. Und seinen Ehrengürtel wird ihm sicher irgend ein Bösewicht oder so klauen oder gar rechtmäßig per Match abnehmen. Und The Rock gewinnt ihn dann wieder oder holt ihn sich irgendwie zurück. Gähn.
Völlig albern – ich bin mit dem Zähneputzen fast fertig – wird’s, bevor The Rock einen seiner signature shouts ins Mikro plärrt: »Finally … The Rock … has come back … to [gedehnt:] Los Angeles!« Das hat er früher zu Beginn jeder gecutteten Promo verkündet (ich glaube, egal, ob er in der jeweiligen Stadt schon mal aufgetreten war oder nicht). Denn zuvor variiert er das zu: »Finally … The WWE … has come back … to [gedehnt:] Netflix!« Das ist so blöd, mir scheint, da musste er selber schmunzeln.
Da schalte ich dann aus, weil ich das Haus in den Nieselregen verlassen muss. The Rock beendet seinen Sermon gewiss wie seit je üblich mit: »If you smeeeeeeeeellllll … what The Rock … is cookin’!« – was ich früher nie verstanden habe, da mir nicht klar war, dass if nicht nur ›wenn‹, sondern auch ›ob‹ bedeuten kann – und ich werde mir das künftig gewiss nicht ansehen. Denn erstens bin ich kein pubertierender Depp mehr. Und zweitens dauert der Quatsch immer sage und schreibe drei Stunden.
Wundern tue ich mich darüber, dass sowohl Triple H als auch The Rock plärren: »people all over the world are watching«. Ob die davon ausgehen, dass sich nicht in den USA befindliche Leute via VPN einklinken? Und wie zur Hölle funktioniert eigentlich das Internet, wenn ich mich alle paar Sekunden mit einem anderen VPN-Server irgendwo auf der Welt verbinden und also verschiedenste Standorte simulieren kann, mich aber keine einzige Webseite/App jemals fragt: »Moment mal, Freundchen, da stimmt doch was nicht?« Es ist mir wirklich wurscht.