Was bringt das neue Jahr (im Schafkopf-Spiel)?

Eine Hausbewohnerin, deren Handynummer ich eingespeichert habe, hat in ihrer WhatsApp-Story einen Link geteilt. Logisch, dass ich da draufklicke. Führen tut er zur Webseite einer Kartenlegerin. Dass jene Bewohnerin etwas esoterisch angehaucht ist, wusste ich, aber das überrascht mich dennoch. Freilich lese ich mir den Internetauftritt durch. Er enthält nichts, was mich als Gaudibesucher der Messe »Spiritualität und Heilen 2019« befremden könnte. Dort waren u. a. ein »Feinstoffchirurg« zu Werke, der live eine Frau von ihrem ewigwährenden Kopfschmerz »heilte« – ausschließlich mit feinstofflichen Mitteln, und ein Typ mit »schützenden« Pappschachteln gegen allerhand schädliche Strahlung wie 5G. Doch will ich da jetzt gar nicht nachtaroten nachtarocken, gleichwohl da auch gefährlicher Unsinn verbreitet wird.

Über ein Detail muss ich schmunzeln: Die Übersicht über die Esoterikkartensammlung der Wahrsagerin. Denn sie enthält neben allerhand einschlägigen Decks auch: »Tarock bayerische Schafkopf-Karten von F.X.«, und damit das stinknormale Kartenset, mit dem in bayerischen Wirtshäusern schafgekopft, gewattet und Neunerln gespielt wird.

Wie es so oft ist, ist das nicht ganz so abwegig und albern, wie’s auf den ersten Blick scheint. Denn, und das wusste ich nicht: »Die Tarotkarten gehören zur Familie der Tarock-Spielkarten. Bis Ende des 18. Jahrhunderts ist ihre Entwicklung identisch. Danach erhielten Tarot-Kartensätze zunehmend symbolische Inhalte, da sie seitdem explizit als Deutungswerkzeuge verwendet werden. In mehreren Sprachen (u. a. Französisch, Englisch, Spanisch) wird das Wort Tarot sowohl für die Wahrsage- wie auch für die Tarockspielkarten benutzt.« (Wikipedia)

Weil allerdings auch »Skat Wahrsagekarten« zum Werkzeugsortiment der Wahrsagerin gehören: Warum nicht auch gleich UNO, Skip-Bo, Phase 10, das Glücksrad von Spiel des Lebens und der Flugzeugrotator von Looping Louie?

Lysergsäurediethylamid

Letzte Stunde Kunstunterricht am Tag vor den Ferien. Einige Schüler*innen haben an dem Tag nur diese Unterrichtseinheit auf dem Stundenplan. Die Lehrkraft malt sich aus, dass von den 20 eingeschriebenen keine 5 Leute aufkreuzen werden – Oberstufe eben. Also setzt sie sich, es sind noch zwei Stunden bis zum Beginn der Stunde, ans Onlineportal der Schule und schreibt an alle Kursteilnehmer*innen: »Liebe SuS, falls Sie heute noch etwas vorhaben: Vergessen Sie nicht, dass wir heute eine praktische Einheit zur Malerei unter LSD-Einfluss machen. Und kommen Sie bitte keinesfalls mit dem Auto oder Rad. Bis nachher!« »Und wo sind jetzt die Pieces, die wir einwerfen können?!«, klagjohlt eine Minute dreißig nach Stundenbeginn ein auf dem Schoß eines der anderen 32 Anwesenden sitzender Schüler. »Pieces … einwerfen …?«, pariert die Lehrkraft sichtlich irritiert. »Hä Sie ham doch gmajlt mir nemma heid LSD und mol’n dann a Buidl! Hom Sie uns ebba o’gschissn, zefix?!«, belfern die zuagroast’n aus Zwiesel zugezogenen Zwillinge Severin und Genoveva durcheinander. »Nein, warum?«, wehrt die Lehrkraft ab, »und achten Sie bitte auf Ihre Wortwahl, Herr und Frau Aiwanger.« »Aber hier steht’s doch:«, hält ihm die halbe Klasse das Smartphone mit geöffneter E-Mail* entgegen: »Vergessen Sie nicht, dass wir heute eine praktische Einheit zur Malerei unter LSD-Einfluss machen«, zitieren ihn triumphesforsch 18 Kehlen unisono. »Ach, hab ich LSD geschrieben?«, lacht die Lehrkraft, die sich gespielt auf die Stirn klatscht, mit so einer ultranervigen Gespieltheit, die kecke Lehrkräfte zeigen, wenn sie die SuS mit irgendwas ›drangekriegt‹ haben. Aus dem Materialraum wiederkehrt die Lehrkraft, mit zwei riesigen Lichtpanels unter den Armen: »Ich meinte natürlich LED-Einfluss, weil solche LED-Lampen doch so anstrengendes Licht machen«, grinst sie, was die SuS nur mit dem Clownsemoji wiedergeben würden, den Rest lassen sie die KI erledigen. Eines Tages war Josef K. verleumdet worden.

* Bei einem Schüler ist’s versehentlich eine Pornoseite, sogar eine mit justiziablen Inhalten.

Serienkritik: 1899

Ein Dampfschiff mit Migrant*innen verschiedenster Herkunft fährt von London nach New York. Unterwegs trifft eine Morsenachricht mit Koordinaten ein, die den Standort eines vor vier Monaten verschwundenen Dampfschiffs derselben Reederei anzeigen könnten. Der Kapitän lässt diese Position sogleich ansteuern, und ab dann passiert allerhand Mysteriöses und von den Figuren und/oder Zuschauer*innen nicht Begreifbares.

Leicht machte sie es mir nicht, die Netflix-Serie 2022 (1899) 1899 (2022). Legt sie doch nur sehr zäh und langwierig frei, was überhaupt Sache ist bzw. zu sein scheint. Natürlich ist solche Verbergerei spannungsfördernd; doch wenn ich auf Episode 4 von 8 schon fast keine Lust mehr habe, weil die Erzählung nach 150 von insgesamt 400 Minuten einfach noch nirgends zu Potte gekommen ist und keine Anstalten macht, das alsbald zu tun, ist der Geheimniskrämerei zu viel.

Die Showrunner Jantje Friese und Baran bo Odar ziehen den Plot unnötig in die Länge wie spätestens in der dritten Staffel ihrer Erfolgsserie Dark (2017–2020, Netflix). Hier wie da tauchen viele Elemente lähmend redundant auf. Statt aber ellenlang künstlich zu verzögern und mysterisieren, täte es hier wie da gut, die Geduld der Zuschauer*innen nicht so sehr über Gebühr zu strapazieren. Es wirkt, als habe man hier wie da einen Vertrag über eine bestimmte Serienlaufzeit gehabt und diesen dann notgedrungen ausgefüllt. Ganz und gar nicht geschadet hätte es hingegen zu sagen: »Ey, Leute, wir schaffen’s doch in 5 statt 8 Folgen! Hier habt ihr ⅜ des Budgets wieder. Thank us later. Und Serverspeicherplatz spart ihr auch! Schließlich sind wir Teil der ›Initiative ›100 Grüne Produktionen‹ des Arbeitskreises ›Green Shooting‹, die sich in Zusammenarbeit mit der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien zu nachhaltiger Film- und Fernsehproduktion verpflichten‹ (Wikipedia).«

Problem in Bezug auf Dark ist bei 1899 auch, dass diese jener in Teilen der Geschichte frappierend ähnlich ist. So manche Handlungswendung bis hin zu Figurenäußerungen sind aus Dark bekannt. Umgangssprachlich, wie ich manchmal denke, dachte ich: »Prima, dass ihnen mit Dark so eine tolle und erfolgreiche Serie gelungen ist, aber hätten Friese und bo Odar die allergleiche Serie noch mal drehen müssen?« Zu wünschen wäre, dass sie beim nächsten Mystery-Projekt nicht Dark 3 machen. Doch ohnehin habe ich das Gefühl, Friese und bo Odar bleiben ein few hit wonder.

ABER DANN! Kommt 1899 – ich war schon froh, dass sie bald rum war – auf den allerletzten Meter mit einem exorbitanten Plottwist um die Ecke, der mich wirklich überraschte, und ich konnte nicht umhin zu denken: »Ah, jetzt muss ich in Staffel 2 zumindest reinschauen.« Denn gespannt bin ich wie ein Schiffstau, wie das jetzt weitergeht.