De profundis – das Facebbatical-Tagebuch (10 und Schluss)

20.07., Tag 23: Sternstunden des U-Bahn-Infoscreenquiz:
«Wieviel Buslinien betreibt die VAG?
A: ca. 33
B: ca. 44
C: ca. 55» 
Antwort: ca. 55. Nicht besonders aufregend, aber was heißt denn hier «ca.»?! Weiß denn dieser Betrieb nicht mal genau, wieviele Linien er betreibt? Herrje! Unmittelbar fühle ich im U-Bahn-Sitz, wie Unruhe in mir hochsteigt. Was, wenn der U-Bahnlokführer nur ca. weiß, wie sein Gefährt zu bedienen?

21.07., Tag 24: »fast universelle und zutiefst verderbliche Verzauberung unserer Kultur durch Dreck und Müll und Spam und Schrott«, »steindummer, kenntnisloser und talentfreier Autor«, »Pissen«, »Gestank […] Hundescheiße« – dies eine kleine Auswahl der schönsten Ausdrücke des Vortrags, den ich heute auf einer wissenschaftlichen Tagung hielt. Meines mithin ersten Tagungsvortrags überhaupt, wohlgemerkt. Möglich wird’s, wenn man über Gernhardt und Henscheid und Hegel und Adorno und überhaupt über die vergnügliche, verschwurbelte, verdrechselte Verquickung von komischer Kunst und Kritischer Theorie bzw. Hegel’scher Dialektik im Schaffen der Neuen Frankfurter Schule spricht.
Damit kommt das Facebbatical nun aber auch zu einem Ende. Man möge mir nachsehen/anrechnen (je nachdem), dass ich, außer im Hintergrundnebel des ersten Facebbatical-Tagebucheintrags, kein Wort über vermeintliche Vor-/Nachteile von Social-Media-Abstinenz verlor. Erstens ist es mir weitgehend wurscht, was die geneigten Leser_innen mit ihrer Zeit anstellen, und zweitens sind wir hier nicht im SZ Magazin, bei bento oder einem der sonstigen rönjavonrönnesquen Medien. Also: loggt’s euch ein oder lasst’s es, für kurz oder lang «oder was» (Henscheid). «Hauptsach gsund!» (G. Polt)

Adorno: Ambitionen des Abiturienten

Adornos Abituriumsaufsatz gelesen («Die Natur, eine Quelle der Erhebung, Erbauung und Erholung», in: GS 20.2). Schon der erste Satz, «Das Wort ‹Natur› bedeutet in seinem allgemeinsten Sinne die Gesamtheit des unbewußten Daseins schlechthin», lässt die Münder offen stehen. Hat er sich das nun ausgedacht, von irgendwoher brav gemerkt, etwa abgekupfert oder gar einfach abgeschrieben? «A posteriori» (ders., später) deutet vieles auf ausgedacht oder wenigstens gemerkt hin.

Bald nach diesem Hammersatz verlässt er das (wahrscheinlich schon wieder fad gewordene) lexikalisch-definitorische Terrain und fährt wenig erbarmend gesellschaftskritisch fort, mit zart bereits grüßender unbarmherziger Kulturkritik, jedenfalls Kritik-kritisch im schon kantischen Sinne:
«Daß sich der einfache Mann unter der Natur den Wald vorstellt, zeugt lediglich davon, daß er unfähig ist, das Erlebnis der Natur in eine begriffliche Form zu fassen, und es darum mit einer rein sinnlichen Vorstellung zu bannen strebt.»
Sakrament, das sitzt schonmal – medias in res publicas! Ein Schelm, wer sich die Lehrkraft als einfachen Mann und Theodor (noch ausgeschrieben:) Wiesengrund als Schelm vorstellt.

Vollends in sich hat’s denn das Ende des Aufsatzes. So ein Abituriums-Aufsatz markiert «freilich» (a.a.O.), d.h. vielmehr: bekanntlich ja eine merkliche Zäsur, gar das Ende der ersten Phase der Wissenserlangung – und darum unterlässt der gedankenkraftstrotzende, wo nicht ein bissl -protzende Adoleszent Adorno es nicht, schon im drittletzten Satz den Gipfel möglicher Erkenntnis zu offenbaren, nichts weniger nämlich als den Sinn des Lebens:
«In dem Naturerlebnis vollzieht sich die Gestaltung der Welt im Ich: eine gestaltete Welt geht in ein gestaltetes Ich sinnvoll ein, leuchtend im Abglanz des Göttlichen. Die Welt aber im Ich zu gestalten, ist der Sinn des Lebens.»
Sauber! 1921 Jahre nach Jesu Geburt bloß brauchte es, bis einer drauf und dem Herrn dahinterkam! Wofür’s «freilich» (ders.) prompt einen Einser gab.

Und vor dem Horizont dieses fünfseitigen Aufsatzes nun erscheinen sämtliche anderen Werke und Aufsätze seiner Gesammelten Schriften von immerhin Stücker 20 Bänden als nichts mehr denn als mickrige Fußnoten; für Außenstehende notwendige zwar, aber mehr schon aber wieder nicht.

In memoriam Walter Benjamin

Die Bekannte einer Bekannten und ihre Freund/innen fuhren in den frühen Nullerjahren gelegentlich über die bayerisch-tschechische Grenze zu den grenznahen Schwarzmärkten (Vox populi: «Fidschi-Märkte»), um sich grieselig-gruselige Raubkopien beschissener Musik und Filme zu kaufen (bei letzteren hätten, wie sie berichtete, schon mal die letzten fünf bis zehn Filmminuten gefehlt, da man jetzt nicht extra einen neuen Rohling hatte anbrechen wollen).

Die Qualität der gekauften Filme war von eigentümlicher Unsäglichkeit. Manche davon waren anscheinend einfach datenmäßig brutalstmöglich zusammenkomprimiert, um mit einer oder zwei CDs auskommen zu können. Andere waren per Camcorder (seltsam, wie seltsam sich dieses früher sehr gewöhnliche, mittlerweile aber outdatete Wort anfühlt) im Kino aufgenommen in einer Qualität, die heutzutage auf YouTube in den Drunterkommentaren die hämische Äußerung «Filmed with a potato» nach sich zöge.

Jetzt überlegt sie, inzwischen Promotionsstudentin der Theater-, Film- und Medienwissenschaften, über dieses eigentümliche und auf einige Jahre begrenzte Phänomen einen Aufsatz zu schreiben mit dem Titel Das Kunstwerk im Zeitalter seiner tschechischen Reproduzierbarkeit.

Henscheid d. J. über Adorno über »Fit« »for« »Fun«

„Ach!, hätte Adorno doch das Erscheinen der Zeitschrift ‹Fit for Fun› noch erleben dürfen, er hätte im Dreieck geschrieben! Elysisch-flirrend-herzumspielend die Vorstellung, wie er, der inneren Logik des Titels folgend, beginnend beim Stahlbad »Fun« über das zwecklerische »for« zum die Autosuppression indizierenden »Fit« sich, hihi, vorarbeitend Kaskade um Kaskade, stetig komplexer werdend wie stets, in die Schreibmaschine meißelt – freilich ohne Weiterlesen