Gendersensible Sprachwissenschaft

Auf Torsten Gaitzschs »Kchybersetzung« »Kybersetzung« lese ich in einem Beitrag, dass ein Sprachwissenschaftler untersucht hat, ob und inwiefern es in der Schweizer Stadt Biel (Kanton Bern) vom Bildungsgrad abhängt, ob jemand bekannt schweizerisch dialektal »Glückch«, »Sackch« etc. oder standarddeutsch »Glück«, »Sack« etc. sagt. Interessant! Es wurden dafür sogar 16 Personen befragcht befragt. Dass laut der empirischen Untersuchung tatsächlich eine Abhängigkeit besteht, wundert mich so wenig wie Torsten.

Eine Kleinigkeit an dem Forschungsbeitrag finde ich schön: Im abgebildeten Fazit ist zu sehen, dass in der »Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik« die gendersensible Formulierung mit Sternchen verwendet wird. Das finde ich schön, weil mein Eindruck ist, dass gerade in der Linguistik – neben unbestreitbaren bewundernswerten progressiven Tendenzen –, in solchen Dingen oftmals sehr konservativ, wo nicht reaktionär gedacht wird. Siehe etwa den Aufruf »Linguisten gegen Gendern« oder den »wissenschaftlichen Beirat« des Vereins deutsche Sprache, in dem ein Prof. em. aus der Historischen Sprachwissenschaft meiner Alma Mater ist, bei dem ich immer so lachen muss, weil er zeitwissenschaftslebens die Entwicklung der deutschen Sprache über die Jahrhunderte hinweg unter all den fremdsprachigen Einflüssen untersucht hat und jetzt einen reaktionären Verein wissenschaftlich berät, dessen Großem Vorsitzendem zurecht der Vorwurf gemacht wird, die Vereinszeitung läse sich wie das Organ einer Sprach-PEGIDA.

Bereiche wie Historische Sprachwissenschaft oder Dialektologie scheinen mir insgesamt eher ›traditionsverbunden‹ zu sein. Und gerade bei der diachronen Forschung, d. h. bei der, die die historische Entwicklung einer Sprache untersucht, finde ich es eben verwunderlich, wenn manche Vertreter*innen auf einem vermeintlich guten/reinen Sprachstand pochen, der nicht etwa von Anglizismen befleckt werden dürfe. Als hätte sich nicht das heutige Deutsch über die Jahrhunderte hinweg mit verschiedensten Einflüssen entwickelt. Latein, Französisch, und was weiß ich. Warum da jetzt zeitgenössische Anglizismen plötzlich die Sprache ›zerstören‹ sollen, ist mir schleierhaft. Aber solche Purist*innen gab es wohl schon immer, auch zu Zeiten des starken französischen Einflusses auf das Deutsche. Crasser Sprachpurist war bspw. Johann Heinrich Campe, der 1794 die Abhandelung Über die Reinigung und Bereicherung der deutschen Sprache und 1801 ein Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke publicirte. Und manch große Dichtsperson des ausgehenden 18. Jahrhunderts wurde/wird sehr gelobt dafür, deutsche Entsprechungen zu französischen und anderen Fremdwörtern erfunden zu haben, bspw. beschränkt statt borniert (Goethe), Einklang statt Harmonie (Klopstock), angemessen statt adäquat (Gottsched) und – spätestens da wurde es albern – Gaukelbild statt Phantom (Schiller); bloß gut, dass The Phantom of the Opera 200 Jahre später nicht als Das Gaukelbild der Oper ›eingedeutscht‹ wurde.

Man mag es meinetwegen mit gendersensiblen Formulierungen halten, wie man will (ich halte sie für notwendig), aber gerade bei einer »Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik« finde ich sie ein schönes Zeichen.

PS: Eigentlich wollte ich den Teil nach dem ersten Absatz beim zitierten Blogbeitrag kommentieren, aber dann wurde die Ausführung so lang, und so einen Riemen kann ich ja niemandem drunterkommentieren.

»fruehestens 2 Werktage nach Erhalt dieser Email am Schalter moeglich«

An Universitätsbibliotheken werden Fernleihkopien nach wie vor ausgedruckt per Post verschickt statt als Scan via E-Mail (was wohl irgend einem Urheberrechtsschmarren geschuldet sein dürfte). Würzburgs deutsches Detail an diesem bräsigen Anachronismus: Eine Stunde nachdem ich eine Benachrichtigungs-E-Mail über das Eintreffen einer Fernleihkopie erhalten habe, stehe ich, von der Mensa her zufällig vorbeikommend, am Schalter der UB und bitte um die Kopie. Der Mitarbeiter schaut im Regal nach, kann aber nichts finden. Nach seiner Frage, wann ich die E-Mail denn bekommen hätte, verabschiedet er sich kurz für einen Ausflug von zweifelhaften Erfolgsaussichten hinter die Kulissen, kommt, die Kopie in der Hand wedelnd, wieder hervor und jodelt mir beim Überreichen kumpelhaft bierbäckig entgegen: »Die Kollegin meinte, eigentlich erst zwei Tage nach Eintreffen …«

Und tatsächlich, während der Wartezeit habe ich es in der Mitte der Benachrichtigungs-E-Mail gelesen – I shit you not, dass da steht: »Die Abholung der Papierkopie ist fruehestens 2 Werktage nach Erhalt dieser Email am Schalter der Leihstelle moeglich«.

Ich meine, ernsthaft, dann schickt mir halt auch einen Benachrichtigungs- P a p i e r b r i e f , nach dessen Erhalt könnte ich dann auch wirklich gleich zum Schalter latschen und die Kopie abholen, und müsste nicht erst extra zwei Tage auf den E-Mail-Erhalt draufrechnen, um doch noch bangen zu müssen, weil die Abholung ja »fruehestens« dann möglich sei.

(Abhilfe böte ein kostenpflichtiger Dokumentenlieferservice, der aber, haha, an meiner Fakultät nicht verfügbar ist.)

»Schirik«/»Adolfowitsch«/»Russenhitler«

Dass Sergej Surowikin, genannt »General Armageddon« und beschrieben als »absolutely ruthless, with little regard for human life« (The Guardian), zum Oberkommandeur der russischen Streitkräfte im Krieg gegen die Ukraine ernannt wurde, bescherte mir eine Erinnerung: Es war das Jahr 1996, ich 10 Jahre alt, in Russland Präsidentschaftswahlen, mein älterer Bruder verfolgte via Tageszeitung und TV schon das Nachrichtengeschehen. Gegen Boris Jelzin trat u. a. der Rechtsextremist Wladimir Schirinowski an. Über den sagte mein Bruder: »Der Schirinowski, der wenn an die Macht kommt, dann wirft er erst mal eine Atombombe auf Deutschland.« Das erregte durchaus Besorgnis in mir. Glücklicherweise wurde weder Schirinowski Präsident noch warf jemand eine Atombombe auf Deutschland (auch wenn die Antilopen Gang diese Forderung 2017 im Song »Baggersee« aktualisiert hat, wenngleich nicht rechtsextremistisch, sondern linksradikal und uneigentlich). Wie ich gerade lese, verlor Schirinowski mit 5,7 % der Stimmen und landete abgeschlagen auf Platz 5 der Kandidaten.

All die Jahre aber kannte ich diese Atombombendrohung nur aus dem Munde meines Bruders. Jetzt lese ich, dass Schirinowski – in den Medien zeitweise »Adolfowitsch« oder »Russenhitler« genannt – 1991 tatsächlich gesagt hat:

Ihr Leute aus dem Westen steckt eure Nase zu sehr bei uns rein. Aber das wird euch gründlich vergehen. Habt ihr Hiroshima und Nagasaki vergessen? Dann werden wir euch ein neues Hiroshima bescheren. Ich werde nicht zögern, Atomwaffen einzusetzen, wenn sich uns jemand widersetzt. Wir haben Tschernobyl schon gehabt, jetzt müsst ihr Deutsche euer Tschernobyl erleben.

Wikipedia

Regionen, Länder oder Städte mittels Atombomben bzw. radioaktiver Strahlung zu zerstören, schien zeitlebens zu den innigsten Wünschen des 2022 verstorbenen Rechtsextremisten zu gehören. Wobei allerdings nur im Falle Deutschlands das konventionelle Vorgehen »Atombombe drauf, und gut is’« das Mittel der Wahl gewesen wäre. 1992 etwa »brachte er die ›Idee‹ auf, große Ventilatoren zu verwenden, um radioaktive Abfälle in die baltischen Staaten zu blasen.« Gegen Großbritannien und Istanbul wäre Schirinowski so vorgegangen: »2007 schlug er vor, im Atlantik russische Atombomben zu zünden, um Großbritannien zu überfluten«, 2015 trug er die Überzeugung vor: »Es ist sehr einfach, Istanbul zu vernichten. Man muss nur eine Atombombe über dem Bosporus abwerfen und die Stadt wird überflutet.« (Alle Zitate: Wikipedia.) Ob er sich vor der Drohung gegen Deutschland Gedanken gemacht hatte, ob ganz Deutschland per Atombombenwurf in die Nord- oder Ostsee zu überfluten gewesen wäre? Jedenfalls wirken alle diese Drohungen wie die eines dummen Sechstklässlers vom Lande.

Abschließend noch Interessantes zur russischen Präsidentschaftswahl: Unter den elf Kandidaten bei der Wahl 1996 war auch Michail Gorbatschow, er erhielt allerdings nur 0,51 % der Stimmen. Wahlfälschung, war er sich sicher. Und es scheint auf den Stimmzetteln bei russischen Präsidentschaftswahlen die Option »Gegen alle« zu geben. Jedenfalls entfielen 1,54 % der Stimmen darauf. (Quelle: Wikipedia.)

Selbstbeherrschung

Das Kind hat beim Kleinkind-Musikkurs einen astreinen Atavismus hingelegt: Es war auf einen ca. handballhohen Mattenstapel an der Wand halb gestiegen, halb gekraxelt, stand oben und wusste nicht mehr, wie jetzt wieder runterkommen. Freilich Hände in Richtung Papa ausstrecken, »áh!« stöhnen und runtergehoben oder immerhin gestützt werden wollen. Aber ich ging nicht hin, denn es muss, nach einer ausgiebigen Stützphase, allmählich lernen, auf eigenen Beinen, Quatsch: Stufen selbst hinabzugelangen. Nach ein, zwei Momenten versuchte es, sich selbst aus der Gefangenschaft auf dem Mattenstapel zu befreien – und stiegrutschte etwas umständlich auf Beinpopo hinunter. Applaus, Applaus! Worüber sie sich freute, wie sich nur ein stolzes gelobtes Kleinkind freuen kann, um dann – jetzt der Atavismus, weil sie das schon lange nicht mehr macht – zurück zur großen Spielematte in der Mitte des Raumes zu krabbeln statt zu laufen.

Und ich? Reiße mich gerade noch zusammen, nicht wie ein achtmalkluges akademisches Oberarschloch in die Elternrunde zu jodeln: »Erstaunlich, was für einen Atavismus sie plötzlich zeigt, nachdem sie etwas Neues zustande gebracht hat!«

Gesuchte Begriffe: Suchbegriffe

Vor ein paar Wochen hängte ich mein des Datenschutzes beflissenes Ich von früher endgültig an den Nagel. Ich ›meldete‹ diesen Blog wo ›an‹, wo ich es früher im Leben nicht gemacht hätte: bei Google Analytics. D. h. ich loggte mich dort mit meinem Google-Account (früher ebenfalls einer meiner Gottseibeiunse) ein, registrierte die hiesige Domain als die meinige, lud die App herunter et cetera. Analysieren hatten die ja eh schon nach Gutdünken getan.

Warum tat ich das? Weil WordPress mir seit langem überhaupt keine Suchbegriffe mehr anzeigt, über die Leute auf meinen Blog kommen. Vor Zeiten war in der entsprechenden Statistikspalte noch hie und da ein Begrifflein aufgetaucht, doch auch anno dazumal hatten Google/WordPress die meisten für sich behalten. Womöglich wäre das mit dem teureren Business-Tarif anders [Zeigefinger-an-der-Schläfe-kreis-Geste]

Warum mich diese Suchbegriffe interessieren? Etwa weil ich meinen Blog searchengineoptimizen will, um noch mehr Leser*innen anzulocken? Nein! Weil’s lustig ist! Torsten Gaitzsch hatte auf Kybersetzung sogar eine eigene Rubrik, in der er die skurrilsten »Suchanfragen, die auf mein Blog führen« zeigte, und trauert dieser hinterher, weil auch der Google-eigene Blogdienst Blogger die search terms seit Geraumem privativ behandelt.

Warum ich das jetzt alles lang und breit aufschreibe? Weil kürzlich jemand über Google zum Uralt-Beitrag »Wie blöd schon mal jemand geheißen hat: Hermann Freiherr von Schlagintweit-Sakünlünski« gelangt ist. Und da interessiert mich natürlich, wonach die Person gegooglet hatte. Schlagintweit? Sakünlünski? Schlagintweit sakünlünski? Literarische societät kasan? Tatarstan hauptstadt? Kunlun? Kunlun gebirgskette china? Bayern adel erblich? Um ehrlich zu sein, interessiert mich noch viel mehr, wer danach gegooglet hatte. Und warum. Und wann. Am nächsten am Herzen liegt mir freilich die Frage, ob der Text der Person behilflich oder immerhin amüsant war.

Interessieren würde mich beispielsweise auch, wonach die Leute alle paar Tage bei einem der meistaufgerufenen Beiträge dieses Blogs, Guten Appo!, suchen – wirklich nach »guten appo«?! Immerhin beim meistaufgerufenen Beitrag ist es sonnenklar, was beinahe täglich von irgendwem ins Google-Suchfeld getippt wird: »Bereit, wenn Sie es sind!«.

Gebracht hat die Google-Analytics-Registriererei dann: nix. Suchbegriffe, im wahrsten Sinne des Wortes: Fehlanzeige. Wahrscheinlich wollen sie auch dort Geld dafür [Zeigefinger-an-der-Schläfe-kreis-Geste]

Falls Du diese Person gewesen bist, die kürzlich jenen Beitrag via Google aufgerufen hat: Herzlich willkommen in diesem Beitrag! Herzlich willkommen bist Du auch, all diese Fragen in den Kommentaren zu beantworten. Gemeinsam schlagen wir Google ein Schnippchen! (?)