Fahrvergnügen

Kürzlich las ich beim Kollegen Gaitzsch in einem premortem veröffentlichten Nachruf auf das 9-€-Ticket, in dem von vorne bis hinten alles stimmt (außer vielleicht, dass die Deutsche Bahn meines Wissens jeden Sommer an ihre Grenzen kommt), den schönen Ausdruck »Fahrvergnügen«. Und der bescherte mir eine schöne, lange verborgen gewesene Erinnerung:

Um die Jahrtausendwende betrieb ich mit Freunden das sogenannte Aggressive (Inline) Skating, jene Ausprägung des Rollschuhsports, bei dem eins ähnlich wie beim Skateboarden grindet, springt und über Rampen/in Halfpipes herumdonnert. Wir taten dies bei uns aufm Dorf in den Straßen der Wohnsiedlung auf selbst zusammengedengelten Rails. Einen Skatepark ließ die Gemeinde erst errichten, als wir schon lange kein Interesse an der Grinderei mehr hatten.

Ein Glück, dass Vater auf dem Dachboden für gottweißwelche Reparaturanlässe eine gewisse Menge Alteisen und irgendwelches Holzgebälk vorhielt sowie in der Werkstatt im Keller über einen Elektrodenschweißapparat und anderes halbschweres Werkgerät verfügte. Zwar standen aus den damit gebauten Grind-Möbeln (?) die ein oder andere Schraube und vielleicht ein Nagel oder zwei heraus, weswegen wir nicht gänzlich bedenkenlos über die Rohre und Kanteisen sliden konnten, aber was anderes hatten wir halt nicht. Unsere Philosophie war

Auch eine Rampe hatten wir. Das heißt zwei Bierkästen, denen je ein Holzbrett angelegt wurde, so dass uns das eine Brett als Startrampe in die Luft erhob und das andere als Landebahn wieder empfing. Das machten wir einen Nachmittag lang, bis einer von uns mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen wurde, weil er beim Landen auf dem schrägen Brett nach hinten weggekippt war und sich beim Aufprall eine Elle oder Speiche gebrochen hatte. Halt, stop: Langweiligerweise wurde er mit dem ebenfalls schnell wie die Feuerwehr herbeigeeilt gekommenen Krankenwagen abtransportiert und der Hubschrauber flog so leer davon, wie er angebrüllt gekommen war.

Ich selbst rutschte einmal bei einem Grind, den ich noch nie zuvor ›gestanden‹ hatte, so unglücklich weg und knallte mit dem Steißbein derart schmerzhaft aufs Eisenrohr, dass ein Freund sich vor Lachen nicht mehr einbekam, weil ich nur noch gotterbarmenswürdig klagen konnte. Der versuchte, fast super vollführte Grind hieß Shifty. Wie fast alle Grinds hatte auch er einen englischen Namen. Aber einer der Grinds – und jetzt bekommt dieser Beitrag seinen Sinn – hieß, auch im englischen Sprachgebrauch: Fahrvergnügen! Den konnte ich aber, wie die meisten anderen Grinds, leider nicht. So sieht er aus: https://youtu.be/FDHXz84OmjE. Der erwähnte Shifty ist, wenn ich mich recht erinnere, der gleiche Grind, nur dass die Füße in die andere Richtung abgewinkelt werden.

Denke ich an dieses Sportvergnügen zurück, wundere ich mich jedes Mal, wie wenig wir uns dabei verletzt haben. Es muss das Glück der Dummen/Pubertierenden gewesen sein. Schon wie läppisch wir die Skates zugeschnürt/festgezurrt haben, nämlich gar nicht! Denn wir wollten uns, so leicht es eben ging, ›reinlegen‹ können und möglichst lässig aussehen. Wenn ich heutzutage nur daran denke, spannen meine Bänder und Sehnen bis kurz vorm Reißen an.

Was ich mich bei dem Thema stets frage: Kennt überhaupt jemand das Aggressive Skaten? Ich jedenfalls habe bei jeder der äußerst seltenen Erwähnungen das Bedürfnis, diesen Ausdruck/Sport erklären zu müssen, weil ich glaube, niemand kennt das. Schon früher war ich der Meinung: »Skateboarden, klar, kennt jede*r, haben alle schon mal gesehen, können Krethi und Plethi bezeichnen, und selbst Walter Krämer vom Verein Deutsche Sprache dürfte ein Bild von diesem Rollbrettsport vor Augen haben – aber Aggressive Skaten?! Kennt doch kein Mensch!«

Materialien zur Bucheinband-Theorie Suhrkamps Gestaltung zweideutiger Buchtitel

So hübsch die Cover der Reihe suhrkamp taschenbuch wissenschaft auch sind und so hohen Wiedererkennungswert sie mit der immergleichen Schriftart »Times Modern« (Willy Fleckhaus/Rolf Staudt) in den verschiedensten Farben vor schwarzem Hintergrund haben, so sehr kann ihre Idiosynkrasie, Autor und Titel oder Ober- und Untertitel typografisch nicht voneinander abzusetzen, Probleme mit sich bringen. Im vorliegenden Beispiel die Frage: Wie heißt dieses Buch, was ist Ober- und was Untertitel?

Ist es a) Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne oder ist es b) Materialien zur ästhetischen Theorie. Th. W. Adornos Konstruktion der Moderne? »Ach geh, da schau ich doch schnell beim Verlag nach«, denke ich, und stoße dort auf Lösung b:

Bis ich den Buchrücken sehe! Ihm zufolge ist es eindeutig Lösung a:

Vollends von Antwort a überzeugt mich – philologische Kolleg*innen werden mich sowohl für die anfängliche Internetschauerei als auch den Blick auf den nicht zitierfähigen Einband¹ schelten –, vollends überzeugt mich also der Blick ins Impressum. Dort steht:

»CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Materialien zur ästhetischen Theorie
Theodor W. Adornos, Konstruktion der Moderne
hrsg. von Burkhardt Lindner u. W. Martin Lüdke.
1. Aufl. – Frankfurt am Main : Suhrkamp, 1980.«

Na, da hat sich am Ende alles doch noch geklärt. Erstaunen tut’s mich nicht, ist es schließlich nur ein weiteres Glied in der laaangen Kette von Suhrkamps Sonderbarkeiten wie diesen:

Sollte jemand vom Suhrkamp Verlag diesen Beitrag lesen: Ich würde freilich trotz alledem bei euch publizieren. E-Mail-Postfach ist offen!

Ach, eine Sache zu einem der Herausgeber noch, weil eine Freundin sich neulich fragte, ob Theodor W. Adorno in Literaturverzeichnissen statt unter A wie Adorno nicht vielmehr unter W wie W. Adorno eingeordnet werden müsse, da sein Mittelinitial W. nicht für einen abgekürzten Vornamen steht, sondern für Wiesengrund, seinen ›abgelegten‹ Geburtsnamen väterlicherseits (Adorno hatte seine Mutter geheißen)², sei hier gefragt: Ob der eine Herausgeber des obigen Bandes, W. Martin Lüdke, in voller Länge Wiesengrund Martin Lüdke heißt?

Herzliche Grüße
W. A. Maria Lugauer

¹ Schon im ersten Semester schärfte mir ein Linguist ein, zitierfähig sei erst die Titelseite nach dem Schmutztitel eines Buches, die sich i. d. R. auf S. 3 des Buchblocks befindet. Denn alles andere könne ja abgerissen/verschmutzt werden.
² Auweia, meine auf Twitter diesbezüglich geäußerte launige Bemerkung brachte mir den heiligen, barsch und unwirsch geäußerten Zorn eines alten Leiters des FAZ-Geisteswissenschaftsressorts ein!